»Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab«
Predigt über Jesaja 63,15 bis 64,3
Liebe Gemeinde, heute Morgen fing es um halb acht an zu dämmern, um kurz nach acht ist die Sonne aufgegangen. Der Tag, die Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, dauert heute acht Stunden und etwa fünf Minuten. Um viertel nach vier geht die Sonne wieder unter.
Und das sind unserer Aussichten: Bis zum 21. Dezember wird jeder Tag ein bis zwei Minuten kürzer. Die Sonne geht später auf und früher unter. Am 21. Dezember haben wir nur sieben Stunden und 51 Minuten Helligkeit.
Ihr Lieben, kennt ihr diese Symptome:
Seid ihr schneller müde als sonst?
Fällt es euch manchmal schwer, euch zu konzentrieren?
Fühlt ihr euch schnell niedergeschlagen und depressiv?
Seid ihr gerade anfällig für Infekte und schmerzen eure Knochen und Gelenke?
All diese Symptome können verschiedene Ursachen haben, aber alle zusammen deuten sie auf einen Vitamin-D-Mangel. hin, so habe ich im Gesundheitsmagazin der AOK gelesen. Vitamin D bildet sich, wenn Sonnenschein auf die Haut trifft. In Wintermonaten kriegen wir zu wenig Sonne und leiden schnell unter einem Vitamin-D-Mangel. Nur wenn wir im Sommer viel draußen waren, konnte sich ausreichend Vitamin-D bilden. Das wird dann im Körper gespeichert und in der dunklen Jahreszeit freigesetzt, so, wie der Körper es braucht. Das ist schon genial, wie unser Körper das regelt. Hauptsache ist: Viel. draußen sein und die Sonne sehen.
Von mehreren Seiten bekam ich in den letzten Wochen den gut gemeinten Rat: »Gehen Sie spazieren — möglichst, wenn die Sonne scheint? Jeden Tag eine halbe Stunde. Beim Gehen kann man die Gedanken sortieren, das hilft sehr. Die Helligkeit tut gut und Sonne noch viel mehr.« Es ist schwer, neue Gewohnheiten anzunehmen. In der letzten Woche habe ich das versucht.
Oftmals lag eine geschlossene Wolkendecke über der Stadt. Was für eine Tristesse! Dazu oft Regen und Schneeregen. Da will man nicht unbedingt rausgehen. Dreimal habe ich dann in der letzten Woche meine Runde gedreht, als es schon dunkel. geworden war. Tja, keine Sonne, aber immerhin etwas Bewegung. Und dann bin ich zweimal. auch raus, als es hell war. Die Sonne hat auch nicht geschienen, aber immerhin. Man sehnt sich zurück in den goldenen Oktober, den wir hatten. Mehr Sonne, mehr Licht… Es ist einfach so: Das Leben unter einer geschlossenen Wolkendecke können wir auf Dauer nicht ertragen. Wir brauchen Helligkeit, wir brauchen Sonne. Gerade in diesen Tagen spüren das.
Der Predigttext aus dem Propheten Jesaja kennt ja dieses Bild, dass man sich wünscht, endlich wieder den Himmel sehen zu können. Es geht um etwas wie ein geistliches Vitamin-D. Dabei ist dieser Wunsch nicht eben so nebenbei ausgesprochen, eben mal kurz den Himmel sehen. Sondern es ist ein Ausruf, der richtig aus dem Propheten herausbricht: Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab.
Bemerkenswert ist dabei dieses »Ach«! Es ist ein Aufstöhnen, ein Ausdruck einer großen Last und zugleich einer großen Sehnsucht, dass Gott sich endlich zeigen möge, dass er endlich zu uns kommt. Diese Passage aus dem Jesaja ist im Grunde genommen eine Klage, dass Gott schweigt, dass er im Leben der Menschen nicht greifbar ist. Man vermutet ihn, ganz im Sinne des alten Weltbildes, irgendwo über den Wolken: Also weit weg: So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Ja, der Prophet bezweifelt gar nicht, dass es Gott gibt, aber er sieht nicht sein Handeln in dieser Welt. Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. So heißt es bei Luther. Die Basisbibel übersetzt hier konkreter: Wo sind deine brennende Liebe und deine Macht? Dein großes Mitgefühl und deine Barmherzigkeit — wir spüren nichts davon. Da steckt eine große Enttäuschung drin. Die kann man mit Händen greifen.
Der Prophet erlebt seine Zeit, als gäbe es Gott nicht mehr, als wäre er stumm geworden. Die Verheißungen haben sich nicht erfüllt.
Der Text gehört in die Zeit nach dem Exil. Das Volk ist zurückgekehrt in das Land ihrer Vorväter in der Hoffnung auf einen neuen Anfang. Aber der Tempel ist noch zerstört und Gott zeigt sich nicht, er bleibt stumm. Der Spitzensatz heißt: Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Es fühlt sich so leer an, als hätte es die ganze Geschichte Gottes mit seinem Volk nie gegeben: Keine Befreiung aus Ägypten, keine Offenbarung der Gebote, keine Lobpsalmen, kein Tempel zur Ehre Gottes, keine Befreiung dem Exil in Babylon. Nichts davon.
Aber trotz allem hält der Prophet an Gott fest: Ja, der Himmel ist verschlossen und das Schweigen Gottes nur schwer zu auszuhalten, aber er ist dabei immer noch der Bezugspunkt, das Gegenüber für das Volk Israel. Und so wird Gott angerufen: Du, Herr, bist unser Vater; »Unser Erlöser — Unser Befreier«, das ist von alters her dein Name.
Wenn der Himmel einfach so verschlossen ist, bitten wir dich einfach, ja wir bedrängen dich, Gott, lass es Wirklichkeit werden, was dein Name ist, erlöse und befreie uns…
Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.
Damit wäre dem Volk Israel. geholfen. Und darüber hinaus denkt der Prophet auch an die Völker drum herum. Sie sollen wissen, wer Gott ist. Wenn Gott schweigt, wenn er stumm bleibt, dann fühlen sich doch die bestätigt, die sagen, diesen Gott gibt es nicht. Dann bittet er Gott, den großen Auftritt zu wagen. Er soll sich zeigen und zwar unmissverständlich:
Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.
Liebe Gemeinde, in diesen Versen aus dem Buch des Propheten Jesaja steckt Advent: Diese drängende Sehnsucht nach Erlösung, weil die Welt nicht heil ist. Weil vieles so verschlossen ist und sich nichts zu bewegen scheint.
In diesen Tagen lässt uns Corona nicht los. Ich weiß, wir können das nur noch schwer hören und aushalten. Wir haben in diesem Land mehr als 100.000 Tote wegen dieses Virus. Gegenwärtig sind etwa 4.800 Menschen bundesweit wegen Covid 19 auf Intensivstationen. Die meisten von uns hätten das wohl. nicht erwartet, dass die vierte Welle uns mit dieser Macht erwischt. Wie das weitergeht, können wir nicht absehen. Ich möchte mit dem Propheten ausrufen: Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.
Ich denke an die Menschen, die (jenseits von Corona) gesundheitlich stark angeschlagen sind. Konnte man doch früher damit rechnen, dass man sich mit der Zeit nach und nach wieder erholt hat. Man gewann ein gutes Stück der alten Kraft wieder — und damit auch Lebensmöglichkeiten.
Aber jetzt dauert alles länger. Wie lange noch? Keine Kraft mehr. Es ist so mühsam.
So höre Du Gott doch! Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.
Eigentlich hatten sich für heute Gäste aus Uruguay in unserer Gemeinde angekündigt. Zwei Studentinnen, die zur EmK in Uruguay gehören und am methodistischen Begleitprogramm der Klimakonferenz in Glasgow teilgenommen haben, wollten uns besuchen. Sie setzen sich für Klimagerechtigkeit ein und wollten mit uns über dieses Anliegen sprechen.
Das ist jetzt wegen Corona leider nicht möglich gewesen. Aber ich glaube, dass wir von beiden Frauen aus Uruguay hätten erfahren können, wie wichtig es ist, dass Deutschland als führender Industriestaat mehr für den Klimaschutz tut. Wir sind noch weit davon entfernt, die gesetzten Ziele zu erreichen. Denn vieles geht viel zu langsam…
So möchte man ausrufen: Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab. Dass du uns befreist und rettest.
Liebe Gemeinde, diese Sehnsucht, dass Gott eingreift, das ist Advent. Diese Sehnsucht hat hier ihren Platz. Dass wir ihn bitten und anrufen, sich zu zeigen. Dass wir ihn an seine Verheißungen erinnern. Es ist unsere Hoffnung, dass er eingreift in unserem persönlichen Leben. Und es ist unsere Hoffnung für unsere Gesellschaft, ja die ganze Welt, dass er rettet und befreit.
Die Weihnachtsgeschichte des Lukas nimmt diese Hoffnung, die der Prophet ausspricht, auf. Der Evangelist hat sie ins Bild gesetzt. Da reißt nämlich der Himmel auf. Für die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem beginnt Weihnachten so: Sie sehen den Himmel offenstehen. Der Engel Gottes kommt zu ihnen und es heißt, die Klarheit des Herrn leuchtet um sie: Die Hirten hören die Botschaft: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.
Heute am 2. Advent wollen wir unsere Hoffnung auf Gott ausrufen und ihn bitten, gegenwärtig zu sein und uns zu retten und zu befreien.
Und wir halten die Augen offen, wir suchen den Horizont ab nach Zeichen, dass Gott kommt und seine Versprechungen wahr macht: Wie es im Wochenspruch heißt: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28)
Amen.
Einen gesegneten zweiten Advent wünscht Ihnen und Euch Michael Putzke
(Gottesdienst am 2. Advent, 5.Dezember 2021, Evangelisch-methodistische Kirche Bezirk Kassel/Großalmerode)