Amazing Grace – Beglückende Gnade
Liebe Gemeinde, heute Abend vor einer Woche wurde in Kassel das Musical „Amazing Grace“ aufgeführt. Der Höhepunkt am Ende des Gospelkirchentages. Von diesem Lied haben wir gerade drei Strophen gesungen.
Das Lied ist in seiner englischen Fassung weltbekannt. Auch in unserer Ausgabe des Gesangbuches ist es aufgenommen. Ich kannte es bis dahin als ein Lied, das viele große Sänger und Künstler gesungen und gespielt haben: So zum Beispiel Louis Armstrong, Mahalia Jackson, Johnny Cash, auch Rod Steward, Elvis Presley…
Auch die Melodie ist vielfältig eingesetzt worden. Die Schlagersängerin Lena Valeitis soll einmal einen anderen Text zu dieser Melodie gesungen haben: „Ein schöner Tag ward uns beschert“. Ich habe erfahren, dass ein Chor in Epterode dieses Lied in seinem Repertoire hat. Noch bekannter ist diese Melodie unter Fußballkennern, vor allem unter den Fans von Borussia Dortmund. Sie haben einen eigenen Text dazu: „Leuchte auf, mein Stern, Borussia.“ Die Melodie ist vielfach verwendet worden, aber mit diesem Text: „Amazing grace!“ ist sie noch am eindrucksvollsten.
Das Lied hat auch ein starkes Thema: Es ist ein Bekehrungslied:
O Glück der Gnade! Gottes Hand / und Augen suchten mich. / Ich war verlorn, bis er mich fand, / war blind, jetzt sehe ich.
Einst ein Sünder – jetzt gerettet.
Einst blind – jetzt sehend.
Einst verloren – jetzt gefunden.
Das ist die klassische Beschreibung eines Bekehrungserlebnisses. Geschrieben hat diesen Text ein Mann namens John Newton. An seinem Leben können wir ablesen, was Gnade bedeutet und was Bekehrung ist.
Das Leben von John Newton
John Newton wurde im Jahre 1725 in London geboren. Sein Vater war Schiffskapitän. Seine Mutter war eine fromme Frau, aber die Erziehung hat bei ihrem Sohn nicht gefruchtet. Seine Mutter stirbt früh als er nur sechs Jahre alt war. Sein Vater war Kapitän zur See. Mit elf Jahren verlässt John Newton die Schule und heuert auf dem Schiff seines Vaters an. Als Jugendlicher ist er rebellisch, rücksichtslos und lästert viel über Gott.
Bei einem Landgang wird er von der Marine zum Dienst auf einem Kriegsschiff gezwungen, er desertiert, wird gefangen, ausgepeitscht und kommt ins Gefängnis. Als er wieder freikommt, heuert er einige Zeit später auf einem Sklavenschiff an. In den nächsten Jahren macht John Newton eine Laufbahn in der Seefahrt. Er steigt mit der Zeit auf zum Kapitän. Und muss nun selber ein Schiff steuern, das voll ist mit Sklaven. Auf einer Überfahrt gerät er in einen Sturm. Er bekommt Angst um sein Leben. In Todesangst entschließt sich Newton, ein neues Leben zu führen. Als er gerettet wird, ist für ihn nichts mehr wie es war. Er erlebt eine Bekehrung.
Trotzdem bleibt er aber zunächst Kapitän auf dem Sklavenschiff. Für ihn ist das zunächst kein Widerspruch. Die Verhältnisse auf diesen Schiffen waren schrecklich. Bis zu 400 Menschen wurden in die Schiffe geladen, sie mussten mehrere Wochen angekettet pro Person auf gerademal einem halben Quadratmeter aushalten. Durch die katastrophalen hygienischen Zustände überlebten nur die Widerstandsfähigsten. Newton versucht seine Arbeit damit zu rechtfertigen, dass er ja die Bedingungen an Bord verbesserte. Und dazu hielt er jeden Sonntag einen Gottesdienst für die Mannschaft. Es brauchte Zeit für ihn zu verstehen: Allmählich wurde ihm klar, wie menschenverachtend und brutal das System war, in dem er arbeitete.
Aber letztendlich steigt er wegen einer schweren Krankheit -vermutlich ein Schlaganfall – aus dem Sklavenhandel aus und sucht sich eine neue Arbeit im Hafenbetrieb von Liverpool. In Liverpool lernt er auch die Gebrüder John und Charles Wesley kennen. Sie unterstützen ihn, bei seiner Entscheidung zu predigen und Theologie zu studieren. Mit dann mit 39 Jahren ist er am Ziel und wird zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht.
Später engagierte John Newton sich vehement für die Abschaffung der Sklaverei. Er verbündete sich mit den Politikern, die diesen profitablen Wirtschaftszweig im gesamten Britischen Empire verbieten wollten. Es brauchte aber noch Jahre. In seinem Todesjahr 1807, erließ das britische Parlament endlich ein Gesetz, das den Sklavenhandel verbot.
Lieder vom Glauben in einfachen Worten
Als Geistlicher schreibt John Newton Lieder, die der Lebendigkeit und Frömmigkeit seiner Predigten entsprachen – dieses Bedürfnis nach neuen Liedern teilt er mit Charles Wesley. Er will mehr als die kirchlichen Psalmengesänge. Er veröffentlicht ein Liederbuch mit über 280 Texten von ihm. Sein Ziel war es, einfache und verständliche Texte für die Menschen in seinen Gemeinden zu schreiben. Eines davon ist Amazing Grace, in dem im Dezember 1772, sein Leben beschreibt: „Ich war verloren, und wurde gefunden.“
Die Überschrift im Gesangbuch bezieht sich auf Verse aus dem 17 Kapitel des 1. Chronikbuches. Wir haben vorhin den Zusammenhang in der Lesung gehört. Hier geht es darum, dass David es nach seinen Verfehlungen und sündigen Taten nicht fassen konnte, wie Gott immer noch zu ihm steht.
Wer bin ich, HERR, Gott, und was ist mein Haus, dass du mich bis hierher gebracht hast? Du hast mich schauen lassen, wie ein Mensch ein Gesicht empfängt, und hast mich hoch erhöht, HERR, Gott.
Das ist das Gefühl von John Newton. Amazing Grace! Erstaunliche Gnade! Beglückende Gnade! Kurz vor seinem Tod sagte er in einer Predigt: „Mein Gedächtnis hat stark nachgelassen, aber an zwei Dinge erinnere ich mich sehr gut, dass ich ein großer Sünder bin und das Christus ein großartiger Retter ist.
Alles ist Gnade
In welchem Maße ist John Newton schuldig geworden im Laufe seines Lebens?! Er beschreibt sich selbst in der ersten Strophe des Liedes auf Englisch als Schuft, der verloren war und nun gerettet ist. Aber die Last ist ihm genommen, er ist befreit. Alles ist Gnade: In den ersten drei Strophen auf Englisch kommt das Wort Gnade sechsmal vor. Gnade ist die Kraft, die im Leben von John Newton die Wende gebracht hat: Er war verloren, jetzt ist er gefunden. Er war blind, jetzt kann er sehen, er war in Not und Nacht, jetzt ist er geborgen. In diesem Lied steckt das Leben von John Newton, er will uns zeigen, was Gnade ist.
Was ist Gnade?
Der Schweizer Pastor Leo Bigger hat zu dieser Frage eine prägnante Geschichte erzählt: Ein Mönch sitzt an einem See und sieht wie ein Skorpion ins Wasser fällt und versinkt. Das Tier kämpft ums Überleben. Da greift der Mönch mit der Hand in den See und holt den Skorpion aus dem Wasser. Bei der Rettungsaktion sticht der Skorpion dem Mönch in die Hand.
Dann fällt der Skorpion zum zweiten Mal ins Wasser und gerät wieder in Lebensgefahr. Der Mönch greift wieder ins Wasser, um den Skorpion zu retten. Dies gelingt auch. Und zum zweiten Mal sticht der Skorpion den Mönch.
Der Skorpion fällt ein drittes Mal ins Wasser und droht wieder zu ertrinken. Und zum dritten Mal greift der Mönch ins Wasser rettet den Skorpion und wird zum dritten Mal gestochen.
Ein Mann sieht das und fragt den Mönch: Ich verstehe dich nicht. Warum tust du das? Warum hilfst du einem Skorpion, der dir dreimal in die Hand sticht?
Der Mönch antwortet: Es liegt in der Natur von uns beiden. In der Natur von dem Skorpion liegt das Stechen, in der Natur eines Mönches liegt es, barmherzig zu sein – immer wieder und immer wieder.
Leo Bigger sagt, wie der Mönch handelt, das ist Gnade.
Gott geht den Menschen immer wieder nach. Wir lesen davon im Alten Testament, wie er David nicht fallen lässt, wie er sein Volk nicht fallen lässt – bis heute. Und es ist der Weg Jesu, allen die Hand zu reichen und sie zu retten, wieder und wieder.
Das ist Gnade.
Würde ich so handeln wie der Mönch? Nein! Da, wo ich längst aufgeben würde, wo meine Liebe längst zu Ende ist, weil sie verletzt ist und gekränkt, da reicht Gottes Liebe immer noch hin.
Wie können wir von Bekehrung sprechen?
Das Lied Amazing Grace ist ein Bekehrungslied, das uns zeigt, was eine Bekehrung ist und wie wir davon reden können. Der Theologe Siegfried Zimmer, den ich sehr schätze, kritisiert in seinen Bibelarbeiten und Predigten, dass in vielen freikirchlichen Gemeinden offensiv davon gesprochen wird: „Ich habe mich bekehrt.“ Es gibt Christen, die schlagen sich an die Brust und können tolle Bekehrungsgeschichten erzählen. Er kritisiert, dass in diesem Satz „Ich habe mich bekehrt“ steht vorne das ICH. Als wäre die Bekehrung eine persönliche Leistung. „Ich habe das gemacht.“ Was für eine Arroganz, sagt Siegfried Zimmer. Dieses ICH vergisst die Gnade. Stattdessen schlägt er vor: „Sagt es doch anders: Und dann ist Gott so in mein Leben getreten – so, dass ich ihn nicht mehr ignorieren konnte und wollte.“ Das passt zu der Geschichte vom Skorpion und dem Mönch: Machen wir uns eigentlich eine Vorstellung davon, wie lange Gott uns nachgegangen ist? Wie viel Mühe er sich gemacht, uns zu retten? Wie oft hat er seine Hand nach uns ausgestreckt, aber wir haben abgelehnt: „Ich brauche dich nicht…“ Wir stechen die Hand, die uns retten will. Wir verändern uns nicht…
Ich habe das Gefühl, John Newton hat einmal mit offenen Augen auf sein Leben gesehen. Und er merkt: Wie oft war Gott da und er hat ihn ignoriert. Er war solange blind für Gott. Dann wurde er Christ und auch dann war er blind für das Leiden der Sklaven. Bis ihm klar wurde, dass Gott nie nachgelassen hat, ihn zu suchen. Und dass er als Kapitän eines Sklavenschiffes der Schuld nicht entkommen konnte. Und Gott es nicht aushielt, ihn in einem solchen Leben zu belassen. Er ist ihm nachgegangen. Jahrelang. Gott hat nicht aufgegeben, er konnte nicht anders, weil es Gottes Wesen ist, barmherzig zu sein. Weil es sein Wesen ist, gnädig zu sein.
John Newton kann einfach nur sagen Amazing Grace. Erstaunliche Gnade, beglückende Gnade, mit der Gott uns sucht und nicht müde wird, Menschen ein neues Leben zu zeigen.
Trauen Sie sich dieser Gnade Gottes an, lassen Sie sich von ihm finden, lassen Sie sich von Gott die Augen öffnen. Mit seiner Gnade fängt alles an und sie führt in die Zukunft: In Güte hüllt mein Gott mich ein, / verspricht mir täglich neu: / Ich will dein Ein und Alles sein, / bleib dir auf immer treu.
Amen.
(von Pastor Michael Putzke)