Tatort: Ein Acker jenseits von Eden
Liebe Gemeinde, statt um 20.15 Uhr im ARD-Fernsehen gibt es heute den Tatort schon am Sonntagvormittag hier in der Kirche.
Es liegt ein Tötungsdelikt vor. Die Frage ist: War es ein Totschlag im Affekt oder ein vorsätzlicher Mord? Auf alle Fälle handelt es sich um einen innerfamiliären Konflikt. Denn Opfer und Täter sind Brüder.
Der Tatort: Ein Acker jenseits von Eden. Zeuge, Richter und Anwalt ist Gott.
Die Tatzeit ist nicht bestimmbar. Sie ist quasi immer. Denn dieser Krimi am Anfang der Bibel. stellt keine historische Geschichte dar. Es ist eine Urgeschichte, die uns etwas Urmenschliches erzählen will. Die Geschichte von Kain sagt uns etwas über uns selbst.
Da nun Tathergang und Täter schon feststehen, schauen wir auf das Motiv. Warum ist es zu diesem Tötungsdelikt gekommen? In Krimis wird ja dann in der Regel. das Umfeld des Täters erforscht, um zu verstehen, wieso er so etwas Schreckliches tun konnte. Also fragen wir: Was wissen wir von Kain?
Kain ist der Erstgeborene. Die Eltern Adam und Eva hatten aus Eigenverschulden gerade das sichere Zuhause mit Rundumversorgung im Paradies verloren. Sie mussten nun im Schweiße des Angesichts für den eigenen Unterhaft sorgen.
Trotzdem wird das erste Kind Kain von seiner Mutter Eva begrüßt mit den Worten: „Mithilfe des Herrn habe ich einen Sohn bekommen.“ Kain ist also ein Wunschkind. Ein Gottesgeschenk.
Schon mal ein guter Start ins Leben. Dann kommt der zweite Sohn. Dieser bekommt den Namen Abel., das bedeutet auf Hebräisch «Windhauch». Dieser Name ist programmatisch. Abels Leben wird nach kurzer Zeit «verwehen».
Ganz neutral wird dann von der Berufswahl berichtet: Abel wurde Hirte und Kain wurde Ackerbauer. Zwei verschiedene Wege, das Leben zu bestreiten. Ohne Wertung.
Beide Brüder geben Gott etwas ab von den Erträgen ihrer Arbeit. Und dann geschieht das Unverständliche: Gott schaute wohlwollend auf Abel und sein Opfer. Doch Kain und sein Opfer schaute er nicht wohlwollend an.
Das ist der Satz, über den die meisten stolpern. Das, was da gesagt wird, halten wir in der Regel nicht aus. Denn wir glauben doch, dass Gott alle gleich liebt. Gott ist doch ein gerechter Gott. Darum wird immer wieder spekuliert: Liegt es nicht doch an Kain, dass Gott sein Opfer nicht gnädig ansah?
Ich habe mal in meiner alten Kinderbibel von Anne de Vries nachgeschaut, die für mich prägend war. Auf den Bildern wird diese Szene so dargestellt, dass der Rauch von Abels Opfer geradewegs zum Himmel. hinaufsteigt, während Kains Feuer kaum brennt und der Rauch am Boden bleibt. Die Geschichte wird dann so in der Kinderbibel ausgeschmückt, dass letztlich Gottes Anschauen abhängig gemacht wird vom richtigen menschlichen Verhaften. Von Abel heißt es da, dass er Gott liebhatte und ihm dankbar war, weil er für ihn sorgte. Gott hörte das und nahm deshalb Abels Opfer gern an. Kain aber hätte Gott nicht liebgehabt, wird behauptet, und er sei nicht richtig dankbar gewesen. Er soll bei sich gedacht haben: „Warum muss ich dem Herrn eigentlich danken? Ich habe das Korn doch selbst gesät, ich habe doch mühsam dafür gearbeitet!“ (de Vries, Kinderbibel, S.16) Und darum hat Gott sein Opfer nicht angesehen.
Das alles aber steht so nicht in der Bibel!
Da steht nur: Gott schaute wohlwollend auf Abel und sein Opfer. Doch Kain und sein Opfer schaute er nicht wohlwollend an.
Es wird kein Grund angegeben, warum das so ist. Es ist einfach so.
Und genau das fordert uns heraus, liebe Gemeinde. Denn so ist ja unsere Erfahrung. Es gibt so viel Ungleichheit, so viel Ungerechtes. Da sind Menschen, die so viel Schweres ertragen müssen. Krankheiten, Misserfolge, Unfälle, finanzielle Sorgen. In manchen Familien häuft sich das. Andere haben aber unendlich viel Glück. Ihnen scheint alles zu gelingen. Sie wurden mit mehr Lebenskraft und Begabungen ausgestattet. Dann noch eine Erbschaft, die sie unbesorgt in die Zukunft schauen lässt. Ja, es herrscht Ungleichheit. Warum bekommt ein Mensch Beachtung, andere fühlen sich übersehen? Warum fällt dem einen Kind das Lernen leicht und das andere schaut mit Grauen auf den morgigen Schulbeginn, weil es doch weiß, dass die Buchstaben weiter durcheinandertanzen und die Vokabeln einfach nicht im Kopf bleiben. Warum bin ich in diesem Teil der Welt geboren, kann mich frei bewegen, habe Zugang zu Bildung und politischer Mitbestimmung, ganz anders als eine Frau in Afghanistan? Das ist einfach nicht gerecht. Eine Auslegerin schreibt: „Es gibt keinen ersichtlichen Grund. Alle moralischen Erklärungsversuche banalisieren das Unglück. Wir wissen nicht, warum das so ist, so ungerecht. Es gilt nur diesen vollkommen rätselhaften, menschlicher Vorstellung entzogenen Gott, auszuhalten. Es gilt dessen unendliche Freiheit, sich dem Menschen zuzuwenden oder nicht, anzuerkennen.“ (Verena Salvisberg, Göttinger Predigten)
Liebe Gemeinde, die Erfahrung, ungleich und ungerecht behandelt zu werden, ist eine urmenschliche Lebenserfahrung. Auf das Warum gibt es keine befriedigende Antwort. Die Geschichte von Kain fragt uns aber: Wie gehst du damit um? Reagierst du verletzt, gekränkt, wütend, voller Neid und Zorn. So wie es im Text heißt: Da packte Kain der Zorn und er blickte finster zu Boden.
Das ist eine absolut nachvollziehbare Reaktion. Und genau da hakt Gott ein. Und dadurch wird deutlich: Es ist nicht so, dass Gott Kain nicht sieht. Nein, er hat ihn im Blick und er sucht das Gespräch mit Kain, indem er fragt: Warum bist du so zornig und blickst du zu Boden? Diese Frage ist für mich der Schlüsselsatz in der Geschichte. Manches Ungerechte muss ich aushalten im Leben -die Frage an mich aber ist: Wie blicke ich darauf? Suche ich nach dem Schuldigen und lasse ich meine Bitterkeit und meine Wut an jemand anderem aus, der bevorzugt zu sein scheint? Abel kann übrigens nichts dafür, dass Gott ihn wohlwollend ansieht. Ja, das Leben kann ungerecht zu einem sein. Darum aber zuschlagen, um sich schlagen und durch mein Reden oder sogar auch Tun andere verletzen, weil ich in ihnen meine Feinde sehe? Lasse ich Neid und Bitterkeit in mein Herz und lass es dort wachsen und wuchern, dass es dann auch mein Tun beherrscht? Wie blicke ich? Mit gesenktem Haupt, in mich verschlossen? Dieser gesenkte Blick verhindert das Ansehen des anderen. Er verhindert, dass man überhaupt noch etwas sieht außer sich selbst. Es verengt den Horizont. In dieser Haltung kann man gar nicht anders als auf der erlittenen Kränkung beharren. „In-sich-selbst-Verkrümmtsein“ so hat Martin Luther treffend das Sündigsein beschrieben ist. In mich selbst verkrümmt, verliere ich den gesunden Blick-Kontakt zum anderen und zu meiner Umwelt. In mich selbst verkrümmt, verliere ich den Kontakt zu Gott.
Schon vor dem Mord versucht Gott, zu Kain vorzudringen, indem er ihn warnt: Ist es nicht so: Wenn du Gutes planst, kannst du den Blick frei erheben. Hast du jedoch nichts Gutes im Sinn, so lauert die Sünde an der Tür.
Kain kriegt den Blick nicht frei. Er bleibt in sich verkrümmt, so kommt es trotz göttlicher Warnung zum Brudermord. Gott verhindert demnach nicht, dass Menschen einander verletzen. Gott verhindert nicht, dass wir aneinander schuldig werden. Gott verhindert nicht,- so sehr wir uns das auch von ihm wünschen – dass in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag immer wieder Blut vergossen wird.
Was Gott allerdings tut, ist: Er zieht den Täter zur Rechenschaft und verurteilt ihn.
Anders als beim Tatort am Sonntagabend, der ja meist endet, wenn der Täter überführt und verhaftet wird und man nichts vom Strafmaß erfährt und auch nicht, wie Täter mit ihrer Schuld leben können, geht heute Morgen die Geschichte weiter.
Gottes Geschichte mit den Menschen geht weiter trotz ihrer Schuld.
Gott sucht wieder das Gespräch mit dem Täter. Diesmal ist Gott Ankläger und Richter, aber am Ende sein Anwalt, der ihn vor der Rache der anderen schützt. Gott stellt den Täter zur Rede und schickt ihn als Konsequenz seines Tuns vom Acker. Hier kannst du nicht bleiben. Diesen Boden zu bebauen wird dir nicht möglich sein, denn hier schreit das Blut deines Bruders. Diese Tat wird dich lebenslang verfolgen. Damit wird dem Ackerbauern die Lebensgrundlage genommen, quasi Berufsverbot erteilt. Kain wird heimatlos. Das ist eine harte Strafe. Aber hart genug für einen Brudermord? Hat Kain nicht dasselbe Schicksal verdient wie sein Opfer?
Kain fürchtet, dass viele so denken. Er fürchtet die Rache seiner Mitmenschen. Auch wieder so was Urmenschliches.
In Deutschland ist die Todesstrafe schon lange abgeschafft. Aber es gibt Untersuchungen, dass in den letzten Jahren die Zustimmung, die Todesstrafe wieder einzuführen, in der Bevölkerung zugenommen hat. Bei schweren Straftaten ist der Ruf nach harter Bestrafung oft sehr laut.
Täter müssen bestraft werden, das ist keine Frage, die Gesellschaft muss vor ihnen geschützt werden, aber vielleicht eben auch die Täter vor der Gesellschaft.
Gott wendet sich vom Täter nicht ab und er liefert ihn nicht der Rache der anderen aus. Gott stellt Kain unter seinen Schutz.
Liebe Gemeinde, Gottes Geschichte mit den Menschen geht weiter trotz ihrer Schuld.
In der Bibel steht, dass Kain erst eine Familie, dann sogar eine Stadt gründete. Und alle Harfen- und Flötenspieler sollen von ihm abstammen. Sogar ein Brudermörder bekommt eine zweite Chance. So ist Gott.
Amen
(Predigt am 29.8.2021 zu 1. Mose 4,1-16 – Pastorin Katharina Lange